Kreditverträge müssen die Kreditnehmer umfassend über deren Widerrufsrecht und die damit verbundenen Fristen aufklären. Erfolgt diese Widerrufsbelehrung nicht oder nur in unzureichendem Maße, können die Verbraucher den Widerrufsjoker anwenden und auf diese Weise die Rückabwicklung des Kreditvertrags verlangen – selbst wenn die 14-tägige Widerrufsfrist bereits abgelaufen ist.
Wann genau eine Widerrufsbelehrung als unzureichend gilt, gerät immer wieder zur Streitfrage und beschäftigte bereits diverse Gerichte. Am 26. März 2020 fällte auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) diesbezüglich eine Entscheidung. Wann Sie als Kreditnehmer den Widerrufsjoker gemäß EuGH-Urteil anwenden können, verrät Ihnen dieser Ratgeber.
Kurz & knapp: Widerrufsjoker laut EuGH für Schnellleser
Das Urteil erklärt sogenannte Kaskadenverweise in Widerrufsbelehrungen von Verbraucherkreditverträgen für unzulässig. Dadurch besteht laut EuGH die Möglichkeit, den Widerrufsjoker in derartigen Fällen anzuwenden.
Durch einen Kaskadenverweis ist es dem Verbraucher unmöglich, allein aus dem Vertrag für ihn erforderliche Informationen zur Widerrufsfrist zu entnehmen. Dies widerspricht nach Auffassung des EuGH der europäischen Richtlinie 2008/48/EG. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.
Dies ist umstritten, da der BGH nur wenige Tage nach der EuGH-Entscheidung ein Urteil gefällt hat, durch das Kaskadenverweise in Widerrufsbelehrungen für zulässig erklärt wurden. Inwieweit bei einem deutschen Verbraucherkreditvertrag eine Chance auf einen erfolgreichen Widerruf besteht, kann im Einzelfall nur ein Anwalt beurteilen.
Inhalt
Der EuGH zur Widerrufsbelehrung bei Kreditverträgen
Viele Verbraucherdarlehensverträge in Deutschland enthalten eine bestimmte Formulierung zum Widerrufsrecht, welche wie folgt lautet:
Die Frist beginnt nach Abschluss des Vertrags, aber erst, nachdem der Darlehensnehmer alle Pflichtangaben nach § 492 Absatz 2 BGB (z. B. Angabe zur Art des Darlehens, Angabe zum Nettodarlehensbetrag, Angabe zur Vertragslaufzeit) erhalten hat.
Es ist kein Zufall, dass dieser konkrete Satz immer wieder in Widerrufsbelehrungen in Deutschland zu lesen ist, denn er wurde vom Gesetzgeber selbst im „Muster für eine Widerrufsinformation für Allgemein-Verbraucherdarlehensverträge” vorgegeben. Dieses Muster findet sich seit Juli 2010 in Anlage 7 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) und wird seitdem von zahlreichen Kreditinstituten bei der Formulierung von Darlehensverträgen verwendet.
Doch eben dieses Muster rechtfertigt den Widerrufsjoker, wie der EuGH in seinem Urteil vom 26. März 2020 entschieden hat (Az. C-66/19). Denn der oben zitierte Satz enthält einen sogenannten Kaskadenverweis, welcher laut EuGH nicht mit der europäischen Richtlinie für Verbraucherdarlehensverträge vereinbar ist.
Darum erklärt der EuGH den Kaskadenverweis für unzulässig
Gemäß der Muster-Widerrufsbelehrung des deutschen Gesetzgebers, müssen Sie „die Pflichtangaben nach § 492 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB)” erhalten haben, ehe Ihre Widerrufsfrist zu laufen beginnt. Sofern Sie kein Jurist sind, der sich aufs Vertragsrecht spezialisiert hat, werden Sie mit dieser Information vermutlich nicht viel anfangen können. Es bleibt Ihnen somit nichts anderes übrig, als den besagten Paragrafen im BGB nachzuschlagen, um Informationen zum Beginn Ihrer Widerrufsfrist zu erhalten.
Doch sonderlich hilfreich ist dieser nicht, denn im entsprechenden Absatz 2 heißt es: „Der Vertrag muss die für den Verbraucherdarlehensvertrag vorgeschriebenen Angaben nach Artikel 247 §§ 6 bis 13 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche enthalten.”
Anstatt eine konkrete Antwort zu erhalten, werden Sie somit erneut auf eine Gesetzesvorschrift verwiesen, die sich obendrein noch in einem anderen Gesetzestext befindet als dem, den Sie gerade vor sich haben.
Somit verweist die Widerrufsbelehrung in Ihrem Vertrag auf eine Gesetzesvorschrift, welche ihrerseits auf eine Gesetzesvorschrift verweist. Ein solcher Kaskadenverweis macht es Ihnen als Verbraucher unmöglich, die erforderlichen Informationen zu Ihrem Vertragsverhältnis allein dem Darlehensvertrag zu entnehmen. Dies widerspricht der europäischen Richtlinie 2008/48/EG, welche u. a. Folgendes besagt:
(31) Alle notwendigen Informationen über die Rechte und Pflichten, die sich für den Verbraucher aus dem Kreditvertrag ergeben, sollten in klarer, prägnanter Form im Kreditvertrag enthalten sein, damit der Verbraucher diese zur Kenntnis nehmen kann.
Nach Ansicht des EuGH ist eine solche „klare, prägnante Form” bei einer Widerrufsbelehrung mit Kaskadenverweis nicht gegeben, womit diese ungültig wird. Es ist somit zulässig, in derartigen Fällen den Widerrufsjoker gemäß EuGH anzuwenden.
Deutsches Recht: Der BGH sieht Kaskadenverweise als zulässig an
Wurde Ihr Vertrag nach dem 10. Juni 2010 abgeschlossen, stehen die Chancen hoch, dass auch er einen Kaskadenverweis enthält, welcher laut dem Urteil des EuGH gegen das europäische Recht verstößt. Trotzdem ist es nicht selbstverständlich, dass Sie mit einem Widerruf in einem solchen Fall Erfolg hätten, denn der Bundesgerichtshof (BGH) teilt die Auffassung des EuGH nicht.
Nur fünf Tage nach dem EuGH-Urteil fällte der BGH am 31. März 2020 diesbezüglich eine eigene Entscheidung: Laut dieser sind Kaskadenverweise in Widerrufsbelehrungen zulässig und rechtfertigen keinen Widerruf (Az: XI ZR 198/19). Denn der Gesetzgeber selbst hat mit seiner Muster-Widerrufsbelehrung die Formulierung mit Kaskadenverweis vorgegeben. Gemessen am deutschen Recht ist diese somit rechtskonform.
Ob bei einem Kaskadenverweis nun der Widerrufsjoker (gemäß EuGH-Urteil) anwendbar ist oder nicht (gemäß BGH-Urteil), gerät in Deutschland deshalb nach wie vor zur Streitfrage. Einige deutsche Gerichte mussten sich seitdem bereits mit derartigen Fällen beschäftigen, wobei sie mehrheitlich der Auffassung des BGH folgten (z. B. LG Hamburg, Urteil vom 01.04.2020 – 318 O 424/19, oder OLG Köln, Urteil vom 06.04.2020 – 12 U 52/19).
Wollen Sie Ihren Kredit widerrufen, ist es ratsam, sich an einen Rechtsanwalt zu wenden, der Ihre Erfolgsaussichten realistisch einschätzen kann. Zudem besteht die Möglichkeit, dass dieser andere Fehler in der Formulierung der Widerrufsbelehrung findet, durch die die Widerrufsfrist ausgesetzt wird.